Damit du dich im Viertel nicht verirrst by Patrick Modiano

Damit du dich im Viertel nicht verirrst by Patrick Modiano

Autor:Patrick Modiano [Modiano, Patrick]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2015-07-27T16:00:00+00:00


Wieder zu Hause, hörte er den Anrufbeantworter ab, um zu erfahren, ob Chantal Grippay oder Gilles Ottolini eine Nachricht hinterlassen hatten. Nichts. Das schwarze Kleid mit den Schwalben lag immer noch auf der Rückenlehne des Kanapees und die Mappe aus orangem Karton an derselben Stelle auf seinem Schreibtisch, neben dem Telefon. Er nahm die Fotokopien heraus.

Nicht viel, auf den ersten Blick, über Annie Astrand. Doch. Die Adresse des Hauses in Saint-Leu-la-Forêt war vermerkt: »Rue de l’Ermitage Nr. 15«, gefolgt von einem Kommentar, der verriet, dass eine Durchsuchung stattgefunden hatte. Sie war im selben Jahr vorgenommen worden, in dem Annie ihn zu dieser Fotokabine geführt hatte und sie selbst am Grenzübergang Ventimiglia gefilzt worden war. Erwähnt wurden auch ihr Bruder Pierre (Rue Laferrière Nr. 6, Paris, 9. Arrondissement) und Roger Vincent (Rue Nicolas-Chuquet Nr. 12, Paris, 17. Arrondissement), bei dem man sich fragte, ob er nicht ihr »Beschützer« sei.

Es wurde sogar erklärt, das Haus in Saint-Leu-la-Forêt laufe auf Roger Vincents Namen. Enthalten war auch die Kopie eines viel älteren Berichts der Direktion der Kriminalpolizei, Abteilung Sittenpolizei, Ermittlung und Aufklärung, betreffend die genannte Astrand Annie, wohnhaft im Hotel Rue Notre-Dame-de-Lorette Nr. 46, und darin stand: »Bekannt im Étoile-Kléber.« Aber das alles war verworren, als habe jemand – Ottolini? – beim hastigen Abschreiben der Archivdokumente Wörter übersprungen und irgendwelche zufällig herausgepickten Sätze aneinandergereiht, ohne jeden Zusammenhang.

War es wirklich von Nutzen, sich noch einmal in diese zähe und klebrige Masse zu versenken? Beim Weiterlesen hatte Daragane einen ähnlichen Eindruck wie am Vorabend, als er dieselben Seiten zu entziffern suchte: Sätze, die man im Halbschlaf hört, und die paar Wörter, die man am Morgen erinnert, haben keinen Sinn. Das alles mit genauen Adressen gespickt: Rue de l’Ermitage Nr. 15, Rue Nicolas-Chuquet Nr. 12, Rue Notre-Dame-de-Lorette Nr. 46, wahrscheinlich um Orientierungspunkte zu haben, an die man sich klammern konnte in diesem Treibsand.

Er war sicher, in den nächsten Tagen würde er diese Seiten zerreißen und wäre darüber erleichtert. Bis dahin wollte er sie auf seinem Schreibtisch liegenlassen. Wenn er sie ein letztes Mal las, konnte er vielleicht einen versteckten Hinweis entdecken, der ihn auf die Spur von Annie Astrand brachte.

Er müsste den Umschlag finden, in dem sie ihm einst die Automatenbilder geschickt hatte. An dem Tag, als er ihn erhalten hatte, hatte er in einem nach Straßen gegliederten Adressbuch nachgesehen. In der Nummer 18 der Rue Alfred-Dehodencq keine Annie Astrand. Und da sie keine Telefonnummer beigelegt hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu schreiben … Doch würde er Antwort bekommen?

Heute abend in seinem Büro schien das alles so fern … Seit zehn Jahren schon war ein neues Jahrhundert angebrochen … Und doch, hinter einer Straßenkrümmung, beim zufälligen Blick in ein Gesicht – und oft genügte schon ein Wort, aufgeschnappt aus einem Gespräch, oder auch eine Melodie –, kam ihm der Name Annie Astrand in den Sinn. Aber das geschah immer seltener und dauerte immer kürzer, ein Lichtsignal, das sogleich erlosch.

Er hatte gezögert, ihr zu schreiben oder ein Telegramm zu schicken. Rue Alfred-Dehodencq Nr. 18. BITTE TELEFONNUMMER MITTEILEN.



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